Am 7. Oktober 2022 verkündete Juan Carlos Salazar, Generalsekretär der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO), die Annahme des Netto-Null-Ziels für die globale Luftfahrt bis 2050. Es waren zu diesem Zeitpunkt rund 7 Jahre vergangen seit dem Klimaschutzabkommen von Paris und sogar fast 25 Jahre, seit die für die Regulierung der globalen Luftfahrt zuständige Sonderorganisation der Vereinten Nationen durch das Kyoto-Protokoll damit beauftragt worden war, Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgasemissionen der Luftfahrt auszuarbeiten. Salazar sagte, die Weltgemeinschaft habe „gewaltige Fortschritte für die Nachhaltigkeit unseres Planeten und das Luftverkehrssystem erzielt, das seine Bevölkerungen bedient und verbindet“.
Am 7. Juli 2023 fand auch Kitack Lim große Worte. Der damalige Generalsekretär der International Maritime Organization (IMO) sagte, dass die erfolgte Annahme der IMO-Treibhausgasstrategie 2023 (2023 IMO GHG Strategy), mit der die UN-Sonderorganisation zum ersten Mal das Netto-Null-Ziel vage „um das Jahr 2050 herum“ festschrieb, ein „monumentaler Fortschritt für die IMO“ sei, der „ein neues Kapitel für die Dekarbonisierung der Schifffahrt“ aufschlage.
Obwohl sowohl die ICAO als auch die IMO das Netto-Null-Ziel für Luft- und Schifffahrt vorgegeben haben, scheint sich seitdem der Umgang mit dem Thema Dekarbonisierung bei den allermeisten Airlines und Reedereien kaum weiterentwickelt zu haben: Die Verlautbarungen der Carrier, sowohl in der Schiff- als auch der Luftfahrt, drehen sich einzig um das Wie der Erreichbarkeit von CO₂-Neutralität. Die Dekarbonisierung bis 2050 wird allenfalls als „herausfordernd“, „ambitioniert“, „aufwendig“ oder mit einem anderen Allgemeinplatz umschrieben. Das Ob der Erreichbarkeit hingegen stellt aufseiten der Carrier, zumindest öffentlich, niemand infrage.
Bei nüchterner Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die beiden Branchen beim Thema CO₂-Neutralität in ernsten Schwierigkeiten stecken.
Luftfahrt: Die Quadratur des Kreises
Für die International Air Transport Association (IATA) ist der Weg zur Netto-Null klar vorgezeichnet: Seit der Weltverband der Airlines 2021 das Ziel CO₂-Neutralität anerkannt hat, präsentiert er stets dieselbe verblüffend schlichte, aus nur vier Elementen bestehende Formel, mit der die globale Airline-Branche bis 2050 CO₂-neutral sein soll.
Ausgehend von Hochrechnungen, denen zufolge die Luftfahrt zwischen 2021 und 2050 rund 21,2 Milliarden Tonnen (Gigatonnen) CO₂ emittieren wird (entspricht mehr als dem Vierfachen der CO₂-Emissonen der USA von 2023), werde die Branche 65 Prozent dieser Emissionen mit Sustainable Aviation Fuel (SAF) reduzieren; 13 Prozent der Reduktion würden mittels technischer Innovationen wie Wasserstoff- und elektrische Antriebe bewerkstelligt. Der Rest werde durch CO₂-Kompensationen (19 Prozent) und operative Effizienzgewinne (3 Prozent) erbracht. Geht diese Rechnung auf?
„Die Klimaziele der Luftfahrt sind ohne einschneidende politische Entscheidungen mit Sicherheit nicht erreichbar“, sagt Stefan Gössling. Der Hochschullehrer der schwedischen Linnaeus University forscht zu den ökologischen Auswirkungen des Tourismus; kaum ein Wissenschaftler kennt sich in diesem Feld besser aus als Gössling. Er sagt: „Es gibt schlicht nicht die benötigten Technologien, um das benötigte SAF in adäquater Menge herzustellen.“
Hierfür eignete sich grundsätzlich nur per Elektrolyse hergestelltes synthetisches Kerosin (PtL). Doch derzeit gebe es gerade einmal eine Handvoll Pilotanlagen, von denen keine einzige im problemfreien Produktionsbetrieb sei. „Und selbst wenn diese Anlagen irgendwann einmal laufen sollten, bräuchten sie gewaltige Mengen an grünem Strom. Dieser steht aber auch nicht zur Verfügung.“
SAF nur in homöopathischen Mengen verfügbar
Als SAF zum Hoffnungsträger der Airlines wurde, sprang die Produktion von biogenem SAF an, hergestellt aus Speiseölen, tierischen Fetten und Pflanzenabfällen, doch der Output liegt, trotz beachtlicher Zuwächse, im homöopathischen Bereich.
Laut IATA werden 2024 zwar rund 1,9 Milliarden Liter (1,5 Millionen Tonnen) SAF produziert, die dreifache Menge des Vorjahres. Doch dies entspricht gerade mal rund einem halben Prozent des erwarteten globalen Kerosinverbrauchs in Höhe von 375 Milliarden Liter (299 Millionen Tonnen). SAF reduziert die aus den Triebwerken der Flugzeuge ausgestoßenen Emissionen um bis zu 80 Prozent. Es darf aus regulatorischen Gründen bis zu einem Anteil von 50 Prozent beigemischt werden.
Die Airlines kaufen derweil jeden Tropfen, den sie zu einem bis zu sechsmal höheren Preis im Vergleich zu konventionellem Kerosin ergattern können, und mischen das SAF dem vertankten fossilen Jet Fuel bei. Die auf dem Markt angebotenen Mengen sind minimal.
Carsten Spohr rechnete gegenüber dem US-amerikanischen News-Portal „Politico“ vor, wie groß der Mangel ist: „Stünde Lufthansa das gesamte global produzierte SAF zur Verfügung, könnten wir damit fünf Tage lang fliegen“, so der Lufthansa-CEO. Und könnte die deutsche Airline das gesamte in Europa produzierte SAF für sich allein haben, wäre es nach einem halben Tag verbraucht. Und so sind auch die beigemischten Mengen äußerst gering: Global liegt der Anteil nach Berechnungen der IATA bei durchschnittlich rund 0,2 Prozent. In Europa sind es laut der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) gerade mal durchschnittlich 0,05 Prozent.
Kaum zu erreichende SAF-Beimischungsquote von 2 Prozent
In sechs Monaten müssen die von europäischen Flughäfen aus startenden Airlines ihre Beimischungsquote um das 40-Fache auf 2 Prozent erhöhen. Grund ist die ab dem 1. Januar 2025 geltende EU-Verordnung ReFuelEU Aviation, die bestimmt, dass die Quoten, von dem Eingangswert in Höhe von 2 Prozent ab 2025 ausgehend, schrittweise bis auf 70 Prozent im Jahr 2050 steigen.
Doch selbst, wenn PtL-SAF einst zu wettbewerbsfähigen Preisen in den erforderlichen Mengen verfügbar sein sollte, stehen die Airlines vor einem Problem, das sie bislang nicht in ihre Kalkulationen einbezogen haben und das die Erreichung sämtlicher Klimaziele de facto unmöglich macht: die Nicht-CO₂-Effekte mit Klimawirkung, von denen der bekannteste sicherlich die weißen Kondensstreifen sind, die Flugzeuge an den Himmel zeichnen.
Überspitzt gesagt vervielfachen sie das Problem der Luftfahrt. „Auf CO₂ entfällt nur ein Teil der Klimawirkung des Fliegens in großen Höhen“, sagt Frank Wetzel, Luftfahrtexperte des Umweltbundesamtes. Dies sei zwar seit Jahren bekannt, habe aber in der Branche bislang kaum Beachtung gefunden.
Doch auch das ändert sich nun: Ab dem 1. Januar 2025 müssen die Airlines laut den Bestimmungen der aktualisierten EU-Emissionshandelsrichtline die von ihnen verursachten Nicht-CO₂-Effekte überwachen und deren Umfang an die zuständige Behörde melden; bis 2027 muss die EU-Kommission berichten, wie die Nicht-CO₂-Effekte reduziert werden können, etwa durch eine Einbeziehung in das EU-Emissionshandelssystem. Die nach dem Plan der IATA zu zwei Dritteln auf SAF beruhende Dekarbonisierungsstrategie ist über den Haufen geworfen. Denn: „Nicht-CO₂-Effekte entstehen auch beim Verbrennen von SAF, wenngleich in etwas geringerem Ausmaß“, sagt Wetzel.
Nur radikale Maßnahmen würden Abhilfe schaffen
Laut Gössling wären drastische Maßnahmen erforderlich, um gegenzusteuern. „Es bräuchte eine Reduzierung des Flugverkehrs um mindestens 20 Prozent, um realistisch die Klimaziele erreichen zu können“, so der Wissenschaftler. Natürlich müsse auch die Luftfracht radikal heruntergefahren werden.
„Lebensmittel wie brasilianische Weintrauben, die nach Europa geflogen werden, oder Schnittblumen aus Afrika – das sind Produkte, auf die wir verzichten können.“ Es führe schlicht kein Weg daran vorbei, dass weniger geflogen werde.
„Mir ist bewusst, dass all das nach einer höchst verwerflichen Aussage klingt, die bei den meisten nur Kopfschütteln auslösen wird. Ich gehe aber davon aus, dass in nur zehn Jahren die Anzahl derer, die noch den Kopf schütteln werden, sehr klein geworden sein wird.“
Aus Unternehmenssicht sind das schwer verdauliche Forderungen. „Ich möchte das Konsumverhalten der Verbraucher nicht bewerten“, sagt Tim Scharwath, CEO von DHL Global Forwarding. Es scheine nun mal eine Nachfrage nach Dingen wie mexikanischen Avocados im Winter zu geben, Blumen aus Kenia oder Ware von Temu oder anderen Onlinehändlern aus China.
„Eine persönliche Frage ist: Fühle ich, Tim Scharwath, mich als Mensch wohl damit? Und da muss ich sagen: Jein. Ich bin da innerlich zerrissen. Warum muss man in Deutschland Blumen aus Kenia kaufen? Braucht man das? Menschen sind in ihrem Konsumverhalten nachvollziehbar oft sehr selbstbezogen und tun das, was sie befriedigt, und für manche Menschen scheint es selbstverständlich zu sein, Haargummis aus Übersee einfliegen zu lassen, ohne zu bedenken, was für Folgen das für die Umwelt hat.“
Keine Metrik für nachhaltiges Wirtschaften
Bei Investoren scheint das Thema Nachhaltigkeit derweil immer noch zweitrangig zu sein. „Für Investoren bleiben Finanzkennzahlen wie EBIT bisher der primäre Fokus“, sagt Scharwath. „Dennoch gibt es auch von ihnen Nachfragen zu unseren Emissionen und die anderen längerfristigen Ziele, zu denen auch unsere Dekarbonsierungsstrategie zählt. Wir messen ja hier unseren Fortschritt anhand von klaren Messgrößen und Zielen, aber es gibt natürlich keine einheitliche Metrik, also keine Kennzahl, die das EBIT mit den Kosten für Sustainability direkt verknüpft.“
Bislang gibt es in der Unternehmenswelt keine derartigen Vorstöße. „Ich finde, es sollte solche Diskussionen geben. Heute gibt es sie noch nicht, weil die Menschen die Auswirkungen des Klimawandels offenbar noch nicht deutlich genug spüren.“ Sobald sich das ändere, werde es diese Debatte geben.