Ein weißer Lieferwagen fährt in einem Unternehmensfilm des KEP-Dienstleisters DPD durch eine grüne Bilderbuchlandschaft. Der Zuschauer folgt einem Fahrer bei der Auslieferung einer Sendung. Es scheint die Sonne, in einem Baum ist für ein paar Sekunden ein laut zwitscherndes Rotkehlchen zu sehen, und in Einblendungen ist zu lesen: „Wir bei DPD stehen für schonenderes Wirtschaften. (...) Seit 2012 gleicht DPD alle CO₂-Emissionen aus. Die Paketzustellung ist damit zu 100 Prozent klimaneutral.“
DPD ist nur eines von vielen Unternehmen aus der Logistikbranche, die von sich aus mit Hilfe gekaufter CO₂-Zertifikate ihre Emissionen ganz oder zum Teil kompensieren und dann mitunter behaupten, sie seien „klima-“ oder „CO₂-neutral“.
So betreibt etwa der Hamburger Hafenlogistiker und Terminaloperateur HHLA seit 2019 „den erste klimaneutralen Containerterminal der Welt“, der sogar einen eigenen, aufwendig gestalteten Web-Auftritt hat. Ende August erst gab das Unternehmen bekannt, der Terminal sei erneut vom TÜV Nord als „klimaneutral zertifiziert“ worden.
Nach eigenen Angaben sind die CO₂-Emissionen des CTA durch eigene Anstrengungen auf rund 7.800 Tonnen gesenkt worden. Die HHLA teilt mit: „CO₂-Emissionen, die heute noch nicht vermieden werden können, werden über hochwertige Kompensationszertifikate ausgeglichen. Dadurch unterstützt die HHLA Klimaschutzprojekte, die nach höchstem Gold Standard gemäß Voluntary Emission Reduction (VER) zertifiziert sind.“
Das Verrechnungsmodell scheint eine überzeugende Win-win-Situation herzustellen: Unternehmen aus Industrieländern werden mit Hilfe von CO₂-Kompensationen in die Lage versetzt, ihre selbst gesteckten Klimaziele zu erreichen. Zudem können sie neuartige, klimaschonendere Produkte anbieten – wie etwa einen klimaneutralen Versand von Paketen. Und sie erhalten die Möglichkeit, per se klimaschädliche Geschäftsmodelle mit an sich nicht erreichbaren Emissionsvorgaben zu versöhnen.
Nicht zuletzt bestätigen sie die Illusion ihrer Kunden, sie müssten auf keine ihrer das Klima belastenden Aktivitäten verzichten, wenn sie sich für einen gewissen Aufpreis CO₂-Neutralität erkaufen können. Die Entwicklungsländer wiederum erhalten zusätzliche Einnahmequellen sowie moderne Technik wie etwa Windkraftanlagen und Solarparks zur Erzeugung erneuerbarer Energie. Gleichzeitig profitiert das Klima mit jeder Tonne eingesparter CO₂-Emissionen, und durch illegale Abholzung verwüstete Landstriche erholen sich. So weit die Theorie.
Bilanzielle Verrechnung auf null
Sie basiert auf einem Mechanismus, im Rahmen dessen Unternehmen auf dem sogenannten freiwilligen Kohlenstoffmarkt (Voluntary Carbon Market, VCM) CO₂-Gutschriften kaufen. Jedes Papier, das etwa von Regenwaldprojekten in Entwicklungsländern oder im Rahmen von Vorhaben im Bereich erneuerbare Energien ausgeschüttet wird, soll dabei 1 Tonne an eingespartem CO₂ entsprechen. Diese Emissionsersparnis wird dann mit einer tatsächlich emittierten Tonne des kaufenden Unternehmens bilanziell auf null verrechnet.
Doch die Zweifel an der Validität dieses Modells wachsen. Denn die Gutschriften wurden, so das einhellige Ergebnis von Studien und Recherchen von Medien, zum Großteil im Rahmen von Umweltprojekten erzeugt, die den Anforderungen der Fachwelt nicht standhalten. So sind die Forschungsergebnisse von Wissenschaftlern renommierter Hochschulen eindeutig: Die Zertifikate des freiwilligen CO₂-Markts sind in der ganz überwiegenden Mehrzahl wertlos.
Zu diesem Ergebnis kam etwa ein Team von Wissenschaftlern rund um Benedict Probst von der ETH Zürich in einer Ende Juli veröffentlichten Untersuchung, in deren Verlauf sie mehr als 2.000 Projekte aus mehreren Bereichen analysierten.
Ernüchternde Studienergebnisse
Die University of California, Berkeley wiederum untersuchte ausschließlich Regenwaldprojekte und stellte in einer im September veröffentlichten Studie fest, dass sämtliche analysierten Vorhaben gravierende Fehler aufwiesen. Die Forschungsleiterin der Untersuchung, Barbara Haya, stellte fest: „Der Offset-Markt ist zu kaputt, um noch repariert werden zu können.“
Hinzu kommt ein verfahrenstechnischer Grund, tief im Kleingedruckten des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015 versteckt, der dem Emissions-Verrechnungskonzept in Gänze den Boden entzieht. So legt das völkerrechtliche Abkommen in Artikel 6.4 fest, dass CO₂-Einsparungen nicht doppelt verrechnet werden dürfen.
Dazu kommt es allerdings immer, da alle 197 Unterzeichnerstaaten des Klimaabkommens verpflichtet sind, die in ihrem Land erzielten CO₂-Einsparungen in ein Register einzutragen und den Vereinten Nationen zu melden. Es gibt infolge des Abkommens de facto kaum ein Land auf der Welt, das seine eigenen CO₂-Minderungen nicht selbst für sich reklamieren muss.
Unternehmen ist es somit de facto unmöglich, ihre erworbenen CO₂-Gutschriften im Einklang mit den Bestimmungen des Pariser Abkommens für sich selbst zu beanspruchen. Dass viele Unternehmen es dennoch tun, bleibt nur deshalb folgenlos, weil der freiwillige Markt bislang nicht reguliert ist.
Kritik von höchster Stelle
Und so äußert auch die Deutsche Emissionshandelsstelle (DEHSt) des Umweltbundesamtes Bedenken gegenüber den Zertifikaten des freiwilligen CO₂-Marktes. Die Behörde ist in Deutschland die höchstrangige, per Gesetz bestimmte Institution zur Überwachung und Steuerung des EU-Emissionshandels.
„Man muss es grundsätzlich kritisch betrachten, wenn Unternehmen behaupten, mithilfe von Kompensationen CO₂- oder klimaneutral zu sein“, sagt Marcel Kruse von der DEHSt. Es sei zwar grundsätzlich nicht auszuschließen, dass manche der Projekte die behaupteten CO₂-Einsparungen auch tatsächlich erbrächten, so Kruse, doch das sei die große Ausnahme. „Damit die Projekte umweltinteger sind, müssen Voraussetzungen erfüllt sein, die die Unternehmen selbst gar nicht in der Hand haben.“
Zunächst müsse sichergestellt sein, dass das betreffende Projekt die Anforderung der sogenannten Zusätzlichkeit erfülle, so Kruse. Das heißt, die Umweltschutzmaßnahmen vor Ort hätte es ohne die Einnahmen aus den Zertifikaten nicht gegeben. Daran fehle es etwa regelmäßig bei Projekten aus dem Bereich erneuerbare Energien.
„Auch in den Ländern des globalen Südens ist die Produktion von Strom aus erneuerbaren Energieträgern längst konkurrenzfähig, weil es in vielen Staaten Einspeisevergütungen gibt und die Grenzkosten für die Errichtung großer Wind-, Wasserkraft- und Solaranlagen inzwischen stark gesunken sind.“ Diese Projekte seien deshalb nicht auf die Finanzierung aus dem Kauf von Zertifikaten angewiesen.
Unzureichende CO₂-Reservoire
Hinzu kommt das Kriterium der sogenannten Permanenz: So müssen Kompensationsprojekte CO₂ dauerhaft der Atmosphäre entziehen. Der Hintergrund dieser Anforderung ist, dass Erdöl, Erdgas und Kohle sehr sichere CO₂-Reservoire sind, die das Treibhausgas Tausende von Jahren binden. „Da reicht es nicht, wenn diese Zeitdauer kompensiert werden soll, mit Projekten, die im besten Fall sicherstellen, dass das CO₂ nur wenige Jahrzehnte gebunden ist“, sagt Kruse.
An diesem Kriterium müssten Waldprojekte, die den größten Teil der auf dem freiwilligen Markt gehandelten Gutschriften erzeugen, eigentlich regelmäßig scheitern. Sie tun es aber nicht, ganz im Gegenteil. So entfallen etwa im laufenden Jahr rund 98 Prozent der im Rahmen von Umweltprojekten zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen erzeugten Zertifikate auf Umweltvorhaben im Bereich des Wald- und Forstschutzes in Ländern des globalen Südens.
Diese Projekte gelten bei Experten jedoch nicht nur wegen der vergleichsweise kurzen Lebensdauer von Bäumen als Emissionsminderungs-Vorhaben per se als unseriös. Denn es gibt ein weiteres Kriterium, das die Validität, vor allem von Waldprojekten, bei Wissenschaftlern und Klimaexperten in Zweifel zieht: So müssen die behaupteten Mengen an eingespartem CO₂ das Ergebnis von wissenschaftlich anerkannten Methoden zur Berechnung von Emissionsminderung sein.
„Besonders problematisch ist dabei das Konstrukt der sogenannten vermiedenen Abholzung“, sagt Kruse. Denn entgegen der allgemeinen Annahme werden im Rahmen von vielen Waldprojekten nicht Bäume gepflanzt, sondern vermeintlich vor Abholzung geschützt.
„Die Grundannahme ist, dass der Wald nur durch die Projektumsetzung nicht abgeholzt worden sei, doch das ist schwer vorherzusagen und unterliegt kaum seriös zu modellierenden Berechnungen“, so Kruse. Zudem sei es kaum möglich, falsche Angaben der Projektbetreiber auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen.
„Wenn man all das nicht weiß und ganz unbefangen auf den Handel mit Zertifikaten blickt, denkt man, ist doch toll, was gibt es Besseres, als den Schutz eine Waldes zu unterstützen“, so Kruse.
Bei immer mehr Unternehmen setzt derweil die Erkenntnis ein, dass ihr bisheriges Handeln nicht unproblematisch ist; manche ziehen sich sogar ganz vom freiwilligen Markt zurück. So wurde kürzlich bekannt, dass Shell ab sofort keine Zertifikate mehr zur Kompensation eigener Emissionen nutzen wird. Laut Marktforschern war der Mineralölkonzern der größte Käufer von CO₂-Gutschriften des VCM.
Noch im Januar 2023 hatte das Unternehmen mitgeteilt, über die kommenden vier Jahre mehr als 450 Millionen US-Dollar in Offsetting-Projekte investieren zu wollen.
Contribution Claim als Lösung
Die Lösung für Unternehmen könnte laut Kruse darin bestehen, dass sie schlicht auf die Aussage verzichten, ihre Emissionen mithilfe von Kompensationen zu reduzieren. „Es ist durchaus möglich zu sagen: ,Ganz klimaneutral können wir nicht sein, aber wir leisten unseren Beitrag und tun, was uns möglich ist.‘ Es gibt immer mehr Unternehmen, die das erkannt haben und dies inzwischen so kommunizieren als sogenannten Contribution Claim.“
Auf diese Weise ist es Unternehmen grundsätzlich immer noch möglich, Klimaschutzprojekte zu unterstützen, ohne sich dem Risiko von Greenwashing auszusetzen. Laut Kruse wäre es auch wichtig, dass Unternehmen sich nicht vollkommen aus Projekten zurückziehen. „Es ist per se unterstützenswert, dass sie Aufforstungs- und Renaturierungsprojekte finanziell unterstützen, auch wenn diese Projekte netto nicht die CO₂-Emissionen binden.“
Doch Unternehmen drohen nicht nur Reputationsschäden durch Greenwashing-Vorwürfe zu erleiden. Hinzu kommt ein wachsendes Prozessrisiko. Im Mai 2023 etwa wurde die US-amerikanische Fluggesellschaft Delta Air Lines im Rahmen einer Sammelklage wegen ihrer Klimaneutralitäts-Behauptung auf Zahlung von 1 Milliarde US-Dollar verklagt.
Der Carrier hatte im Februar 2020 mitgeteilt, mithilfe von Investitionen in Höhe von 1 Milliarde Dollar in Offsetting die erste CO₂-neutrale Airline werden zu wollen. Kläger, die Aufpreise auf Flugtickets geleistet hatten, um ihren CO₂-Abdruck durch von Delta Air Lines angebotene Zertifikate auf null zu bringen, argumentieren, sie seien von den Behauptungen der Airline getäuscht worden.
Der CEO von United Airlines, Scott Kirby, macht derweil keinen Hehl aus seiner Ablehnung des Offsetting-Modells. „Der Großteil der CO₂-Verrechnungsmodelle ist betrügerisch“, sagte der United-Chef im Sommer im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung der US-amerikanischen Publikation „Politico“.
Steigendes Prozessrisiko
Das Beispiel macht Schule: Auch Austrian Airlines, eine Tochter von Lufthansa, wurde wegen ähnlicher Vorhaltungen von Verbraucherschützern verklagt. Hierzulande ist die Deutsche Umwelthilfe (DUH) aktiv und bringt mithilfe des Wettbewerbsrechts etliche Unternehmen vor Gericht, die behaupten, durch CO₂-Zertifikate ihren eigenen Emissionsabdruck zu verkleinern oder sogar auf null zu bringen. Dies stelle eine „irreführende geschäftliche Handlung“ im Sinne des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) dar.
„Wir haben bereits 40 Verfahren gegen Unternehmen eingeleitet, die von sich oder ihren Produkten und Dienstleistungen behaupten, sie seien klima- oder CO₂-neutral“, sagt Agnes Sauter, die bei der DUH den Bereich „Ökologische Marktüberwachung“ leitet.
Im Sommer wurde die Drogeriemarktkette DM vom Landgericht Karlsruhe verurteilt, es fortan zu unterlassen, bestimmte Körperpflegeprodukte aus dem Sortiment als klima- oder gar „umweltneutral“ zu bewerben.
Einer der sechs Leitsätze des Urteils geht auf Offsetting ein, mit dem die von DM nicht zu vermeidenden Emissionen vermeintlich auf null gebracht worden waren. In den Erwägungen des Gerichts klingt deutlich das Kriterium der Permanenz an: „Klimaneutralität kann durch Kompensation unter Nutzung von Waldschutzprojekten aus prinzipiellen Gründen nicht erzielt werden. Denn das produktbezogen emittierte Treibhausgas wird dadurch nicht dauerhaft bilanziell neutralisiert.“
Bald juristische Klarheit
Diese prinzipielle Aussage ist laut der Wettbewerbsrechtlerin Louisa Hartig von der Rechtsanwaltskanzlei Osborne Clarke neu. Die Juristin erwartet bald mehr Klarheit in der Sache, denn zurzeit sind mehrere ähnliche Verfahren anhängig, oder es laufen Berufungsverfahren vor dem Bundesgerichtshof.
Sollte sich die Einschätzung des Landgerichts Karlsruhe durchsetzen, „dann wären viele beworbene Kompensationsmaßnahmen schon von vornherein wegen ,Untauglichkeit‘ irreführend“, sagt Hartig. Schließlich habe das Gericht Investitionen in Klimaschutzprojekte als Kompensationsmaßnahmen infrage gestellt.
Die Deutsche Umwelthilfe hat bereits auch die HHLA im Visier wegen ihrer Behauptung, das CTA sei klimaneutral. „Die HHLA fällt uns bereits länger negativ auf“, so Sauter. „Wir können gegen dieses Gebaren allerdings nicht vorgehen, weil davon keine direkten Belange von Verbrauchern tangiert werden.“
Mitarbeit: Lennart Albrecht