Die Binnenschifffahrtsbranche hat sich noch nie von Prognosen beirren lassen. 2011 wollte das Bundesverkehrsministerium die Spree-Oder-Wasserstraße von Berlin nach Eisenhüttenstadt zur Freizeitwasserstraße herabstufen, weil dort 2025 angeblich weniger als 100.000 Tonnen befördert werden sollten. Die Binnenschiffsunternehmer haben sich aber nicht daran gehalten und trotz einer hoffnungslos unterdimensionierten Schleuse auf halber Strecke jährlich 300.000 bis 500.000 Tonnen befördert.
Vor diesem Hintergrund sieht die Binnenschifffahrtsbranche auch die Anfang 2023 vom Bundesverkehrsministerium veröffentlichte und angeblich „objektive“ gleitende Langfristprognose bis 2051 skeptisch. Es ist zwar richtig, dass Massengüter wie Kohle, Heizöl und Benzin, die viele Jahre das wirtschaftliche Rückgrat des Binnenschiffsverkehrs stellten, in einem klimaneutralen Deutschland nicht mehr befördert werden müssen. Daraus zu schließen, dass dieser Verkehrsträger keine Rolle mehr spielen wird, erscheint jedoch mehr als mutig.
Was heute Kohle und Mineralölprodukte sind, werden künftig Wasserstoff und Wasserstoffderivate (zum Beispiel Ammoniak) sowie andere nichtfossile flüssige und gasförmige Brenn- und Treibstoffe sein. Die Westhäfen Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen-Zeebrügge bereiten sich jetzt schon auf wachsende Importe dieser Güter vor. Auch die Binnenhäfen sehen sich künftig stärker denn je in der Rolle von Energiehubs. Angesichts des schleppenden Schienenausbaus in Deutschland wird nur die Binnenschifffahrt – als einziger Verkehrsträger mit genügend freier Verkehrswegekapazität – einen beträchtlichen Teil der Hinterlandlogistik übernehmen können. Hinzu kommt, dass sie uneingeschränkt gefahrguttauglich ist. Ammoniaktransporte zum Beispiel sind kein Neuland, sondern sind schon heute Alltag.
Zukunftsmarkt Recycling
Klimaneutralität bedeutet auch, dass viel weniger Abfälle unwiederbringlich entsorgt werden. Von Kunststoffgranulat bis zum Metallschrott, vom Glasmüll bis zu flüssigen Abfallstoffen: Alle diese Güter sind wenig eilbedürftig und deshalb für den Binnenschiffstransport prädestiniert. Sie müssen auch nicht „just in time“ ankommen, sondern können auch zwischengelagert werden, so dass Hoch- oder Niedrigwasser nicht gleich zu Produktionsausfällen führen.
Wenig bekannt ist, dass die Binnenschifffahrt 2023 bei der Beförderung von Sekundärrohstoffen und Abfällen mit dem Schienengüterverkehr gleichauf lag (siehe Diagramm). Der BDB setzt darauf, dass mit wachsendem Lkw-Fahrermangel und zunehmenden Kapazitätsengpässen auf dem deutschen Schienennetz immer mehr Verlader und Speditionen erkennen, dass das Binnenschiff eine zwar langsame, aber dafür kostengünstige und auch äußerst zuverlässige Alternative für den Transport von Sekundärrohstoffen ist. Welcher andere Landverkehrsträger kann schon von sich sagen, dass seine Infrastruktur 95 Prozent der Zeit voll verfügbar ist?
Bei vielen Verladern aus der Industrie und selbst bei Schwergutspeditionen ist oft nicht wirklich präsent, dass Großraum- und Schwerguttransporte (GST) auf dem Wasser jederzeit genehmigungsfrei möglich sind. Es sind also keine mehrere Hundert Kilometer langen Umwege nötig, nur um marode Straßenbrücken zu umfahren. Die möglichen Straßenanschlusspunkte zur Wasserstraße sind im „Verfahrensmanagement für Großraum- und Schwertransporte“ (Vemags) seit dem Software-Update vom 1. Oktober 2024 in der Netzkarte hinterlegt. Mit einem Klick können die Antragsteller für einen Großraum- oder Schwerguttransport jetzt feststellen, ob an der jeweiligen Anlegestelle eventuell sogar schon ein geeigneter Schwergutkran vorhanden ist.
Zusätzliche Erleichterungen für gebrochene Transporte unter Einbindung des Binnenschiffs soll das Konzept der „Mikrokorridore“ bringen. Das sind vordefinierte und bereits geprüfte Routen zwischen den Anlegepunkten und der nächstgelegenen Bundesfernstraße. Das Konzept wird derzeit in NRW in einem Pilotversuch beim Bau eines Windparks im Sauerland erprobt, stößt aber schon jetzt bei anderen Bundesländern auf hohes Interesse. Die Straßenbauverwaltungen würde es sicher auch freuen, wenn ihre Brücken und Fahrbahnen weniger durch hohe Lasten beansprucht werden.
Knackpunkt Infrastruktur
Voraussetzung dafür, dass der Verkehrsträger Binnenschiff sein Potenzial ausschöpfen kann, ist eine bedarfsgerechte Wasserstraßeninfrastruktur. Hier legt der BDB mit aller gebotenen Deutlichkeit den Finger in die Wunde: Die Beschäftigten der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung (WSV) sorgen zwar mit bewundernswertem Engagement dafür, dass die im Durchschnitt überalterten Anlagen wie Schleusen und Wehre 95 Prozent der Zeit verfügbar sind. Aber schon 2015 hat das Bundesverkehrsministerium den jährlichen Ersatzinvestitionsbedarf für die Bundeswasserstraßen mit 900 Millionen Euro pro Jahr beziffert. Heute dürften es eher 1,2 Milliarden Euro sein. Erreicht wurde dieser Wert in keinem einzigen Jahr. Die unglückliche Vermengung der Mittel für Ersatzinvestitionen und Neu- und Ausbau im Bundeshaushalt tut ein Übriges, um die Unterfinanzierung der Bestandsinfrastruktur zu verschleiern.
Daneben gibt es natürlich noch dringende Ausbauprojekte: an erster Stelle die Fahrrinnenoptimierung am Mittelrhein, das am höchsten bewertete Projekt im ganzen Bundesverkehrswegeplan (BVWP 2030). Das derzeit im Raum stehende Jahr für den Abschluss – 2033 – ist aus Sicht des BDB für ein Vorhaben von sehr überschaubarem Umfang (Preisstand 2014: 60 Millionen Euro) eigentlich indiskutabel. Andere vordringliche Vorhaben mit Engpassbeseitigung – zum Beispiel die ebenfalls sehr gut bewertete Fahrrinnenoptimierung des Untermains bis Aschaffenburg – sind noch nicht einmal in Angriff genommen worden.
Viel spricht dafür, dass das Binnenschiff künftig wieder eine gewichtigere Rolle in der Logistik einnimmt. Voraussetzung ist allerdings, dass auch die anderen Akteure mitspielen, namentlich das Verkehrs-, das Finanz- und das Umweltministerium sowie der Deutsche Bundestag als Haushaltsgesetzgeber. (rok)
Jens Schwanen ist Geschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Binnenschifffahrt (BDB)