Wenn die europäischen Nutzfahrzeug-Hersteller die erwartete steigende Nachfrage nach batterieelektrischen Lkw nicht decken können, riskieren sie es, 2035 bis zu 11 Prozent Marktanteil an Konkurrenten aus China oder den USA zu verlieren. Das sagen die Autoren einer Studie der Boston Consulting Group (BCG) voraus, die im Auftrag der europäischen Umweltorganisation Transport & Environment (T&E) erstellt wurde. Die 11 Prozent, die etwa dem Marktanteil von Scania oder Iveco entsprechen, würden realisiert, wenn es den Wettbewerbern gelänge, eigene Produktionsanlagen in Europa aufzubauen. Wenn sie lediglich E-Lkw in die EU exportieren, dürften die Verluste laut Studie geringer ausfallen.
BCG erwartet, dass die Gesamtkosten (TCO – Total Cost of Ownership) für Kauf und Betrieb eines E-Lkw bis 2025 oder 2026 unter die eines Diesel-Lkw sinken, bei einem mit Wasserstoff betriebenen Brennstoffzellen-Lkw soll es gegen Ende des Jahrzehnts so weit sein. Die scharf kalkulierenden Transportunternehmen würden also recht bald solche Lkw in großen Stückzahlen kaufen wollen. Laut Studie sollen 2030 bereits 55 Prozent aller Lastwagen über 6 Tonnen in der EU Null-Emissions-Fahrzeuge sein, bis 2035 soll deren Anteil dann auf 77 Prozent steigen.
T&E fordert strengere EU-Vorgaben
Transport & Environment warnt, dass europäische Hersteller mit der Produktion möglicherweise nicht nachkommen, wenn sie durch EU-Vorgaben nicht noch entschlossener dazu verpflichtet werden. Die im Februar von der EU-Kommission vorgeschlagene neue CO₂-Grenzwertverordnung für schwere Nutzfahrzeuge sieht vor, dass die Hersteller ihren CO₂-Ausstoß im Flottendurchschnitt gegenüber 2019 bis 2030 um 45 Prozent und bis 2040 um 90 Prozent reduzieren müssen, wobei Sonderfahrzeuge wie Bau-, Müll-, Militär- oder Feuerwehrfahrzeuge ausgenommen bleiben. Die EU-Umweltminister wollen bei einem Ratstreffen am 16. Oktober versuchen, sich auf eine gemeinsame Position zu dem Gesetz zu verständigen. Im Umweltausschuss des Europäischen Parlaments soll am 23. Oktober abgestimmt werden, im Parlamentsplenum zwischen dem 21. und 23. November.
T&E plädiert dafür, das CO₂-Minderungsziel für 2030 auf 65 Prozent hochzusetzen und für 2035 eine Minderung um 100 Prozent für alle zum Warentransport genutzten Lkw, ab 2040 dann auch für alle Sonderfahrzeuge vorzuschreiben. „Um ihre Vormachtstellung auf dem heimischen Markt zu behalten, müssen die europäischen Lkw-Hersteller schneller auf Elektrofahrzeuge umsteigen“, sagte Kim Kohlmeyer, E-Mobilitätsmanagerin bei T&E Deutschland. Es gehe nicht nur um Klima-, sondern auch um „zukunftsgerichtete Industriepolitik.“
Europäer bei E-Lkw global noch gut aufgestellt
Laut Peter Wiedenhoff (BCG), Mitautor der Studie, werden jährlich rund 380.000 Lkw über 6 Tonnen in der EU verkauft, davon nur wenige aus Drittstaaten importierte. Anders als bei Pkw hätten die europäischen Hersteller bei E-Lkw keinen Rückstand auf die globale Konkurrenz, sondern seien mit ihr auf einem Niveau „über Augenhöhe“, was ein guter Ausgangspunkt für den Wettbewerb sei.
In der Studie werden nicht nur Aussagen zum weltweiten Wettbewerb gemacht, sondern auch zu den wirtschaftlichen Folgen der zunehmenden Umstellung auf Elektromobilität. Insgesamt könne durch eine verstärkte Produktion von Null-Emissions-Lkw das europäische Bruttoinlandsprodukt (BIP) um bis zu 32 Milliarden Euro gesteigert und rund 30.000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden, heißt es.
Neue Fähigkeiten im Automobilbau sind gefragt
Allerdings zeichnen die Autoren ein unterschiedliches Bild für verschiedene Teile der Branche. Die größten Vorteile werden den Energieversorgern vorausgesagt, die bis 2035 die Erzeugung von Ökostrom von unter 1 Terawattstunde (2022) auf über 160 Terawattstunden steigern müssten, um bis zu 1,8 Millionen E-Lkw zu versorgen. Für sie erwartet BCG ein BIP-Wachstum von 22 Milliarden Euro und 55.000 neue Arbeitsplätze. Mehr Jobs und Wachstum werden auch den Kfz-Zulieferern vorhergesagt – etwa in der Fertigung von Batterien und Elektroantrieben – und den Unternehmen, die für die Ladeinfrastruktur sorgen. Dagegen müssten die Kfz-Hersteller durch das Auslaufen von Verbrennungsmotoren mit einem Verlust von 35.000 Arbeitsplätzen rechnen, trotz Wachstumsgewinnen von 3 Milliarden Euro. Die Anforderungen an die Mitarbeiter in der Automobilindustrie, sich neue Fähigkeiten anzueignen, seien sehr groß, sagte Wiedenhoff, aber die Hersteller arbeiteten an dem Thema.