Evi Hartmann ist Professorin an der Universität Erlangen-Nürnberg und leitet den Lehrstuhl für Supply Chain Management. In diesem Jahr ist sie im Rahmen des Deutschen Nachhaltigkeitspreises unter anderem für die Kategorien „Transport- und Logistikwirtschaft“ sowie „Mobilitätsdienstleistungen“ Teil der Fachjurys.

Bild: Lehrstuhl für Supply Chain Management

„Bei Nachhaltigkeit immer einen Schritt weiterdenken“

03.11.2023

Ende November wird der Deutsche Nachhaltigkeitspreis übergeben. ZERO by DVZ hat mit Mitgliedern der Jury über die Zukunft nachhaltiger Logistik und die Bewertungskriterien für die Preisverleihung gesprochen. Professorin Evi Hartmann gibt einen Einblick in die bereits absehbaren Entwicklungen der Branche.

ZERO by DVZ: Was ist Ihnen bei der Vergabe des Deutschen Nachhaltigkeitspreises in der Kategorie Logistik und Transportwirtschaft im Jahr 2023 besonders wichtig?

Evi Hartmann: Ganz wichtig ist uns, dass kein grünes Rosinenpicken betrieben wird. Die besten Kandidaten legen vielmehr ganzheitliche Konzepte vor, die den gesamten Betrieb und das ganze Business erfassen und nachhaltig(er) machen. Natürlich können das nicht nur große Konzerne, sondern auch kleine Speditionen. Uns kommt es darauf an, dass man nicht nur hier und da nachhaltig ist, sondern durchgängig und ganz.

Welche Kriterien legen Sie bei der Bewertung an?

Eines der wichtigsten Kriterien ist, dass Unternehmen auch und gerade bei der Nachhaltigkeit immer einen Schritt weiterdenken. Konkret: dass sie heute schon Ansätze testen und finanzieren, die absehbar oder auch nur eventuell erst morgen relevant werden könnten. Das ist sozusagen die Zukunftsstärke der Nachhaltigkeit. Selbstverständlich legen wir auch großen Wert auf den bekannten Dreiklang der Nachhaltigkeit: Vermeiden ist besser als Reduzieren und Reduzieren ist besser als das Kompensieren von Umwelt-, Klima- und sozialen Schäden.

Was zeichnet Sie im Vergleich zu Ihren Jury-Kolleg:innen besonders aus?

Ich muss sagen: Wir haben eine herausragend kompetente und prominent besetzte Jury. Wenn es darüber hinaus etwas gibt, das mir und meinem Lehrstuhl-Team besonders am Herzen liegt, dann die zukunftsweisenden und meist auch stark operativ orientierten Projekte mit unseren Partnern aus der Unternehmenspraxis.

Wo liegen Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre? Inwieweit beeinflussen diese Ihr Jury-Urteil?

Ich erforsche hauptsächlich die Menschen in Lieferketten und Logistik, wie sie noch effizienter zusammenarbeiten könnten und wie sie ihre Lieferökosysteme optimieren und nachhaltig gestalten können. Ein besonderer Schwerpunkt ist die Zukunftskompetenz der Logistik – aus offensichtlichen Gründen: Zukunft ist Schicksal. Und natürlich beeinflussen diese Forschungsschwerpunkte mein Jury-Urteil, indem ich besonderes Augenmerk auf die Zukunftsfähigkeit und die Kollaborationsorientierung der Kandidaten richte.

Wo sehen Sie die Logistikbranche im Vergleich zu anderen Branchen auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft?

Wir haben eine Sonderstellung, wenn nicht eine Spitzenstellung unter den Branchen. Allein schon, weil Lieferketten 60 Prozent aller weltweiten CO2-Emissionen verursachen. Ungefähr 90 Prozent der Emissionen aller Güter entstehen nicht bei deren Produktion, sondern entlang deren Supply Chain. Wir als Branche halten also enorm starke Hebel für die Klimarettung in Händen.

Der stärkste Hebel sind unsere Lkw-Flotten. Sie haben seit 1995 ihren CO2-Ausstoß um 8,5 Prozent und ihre Schwefeloxide sogar um 99 Prozent reduziert. Trotzdem stiegen die CO2-Emissionen im Straßengüterverkehr zwischen 1995 und 2021 um 23 Prozent – weil die Fahrleistung von 47,8 Milliarden auf 64,3 Milliarden Kilometer sprang. Der zweite große Klima-Hebel ist die Seefracht, die den Lkw-Flotten nur wenig nachsteht. Diese zwei Hebel bieten einerseits ein großes Potenzial für Nachhaltigkeitsgewinne, andererseits machen sie aber auch enormen Druck auf die Logistik.

Druck, neue und bessere, grüne Optionen der Versorgung zu realisieren: E- und H-Lkw, großflächige Schulungen für spritsparendes Fahren, Slow Steaming von Containerschiffen, Reduktion von Leerfahrten mittels Frachtbörsen und KI, stärkere Multimodalität von Transporten, Segelcontainerschiffe, Reduktion von Verpackungsgewicht … Es gibt so viele Möglichkeiten. Wir sollten sie alle nutzen.

Über Evi Hartmann

Die Wirtschaftsingenieurin ist Professorin für Betriebswirtschaftslehre und leitet seit 2009 den Lehrstuhl für Supply Chain Management an der Universität Erlangen-Nürnberg. Für den Deutschen Nachhaltigkeitspreis ist sie unter anderem Mitglied in den Jurys für die Kategorien „Transport- und Logistikwirtschaft“ sowie „Mobilitätsdienstleistungen“.

Was sind aus Ihrer Sicht die besonderen Herausforderungen bei der Dekarbonisierung der Logistik-Branche?

Das ist ganz klar der Mega-Change von Transporteffizienz zu Nachhaltigkeit und Effizienz. Den deutschen Güterverkehrs-Supertanker mit rund 300 Milliarden Euro Umsatz auf dem Handteller der Nachhaltigkeit zu wenden, ist eine Superhelden-Aufgabe.

So wird es Hunderte Milliarden Euro kosten, die bundes- und europaweite Ladeinfrastruktur für E- und H-Lkw aufzubauen. Wer soll das mitten in der Rezession bezahlen? Erschwert wird die Dekarbonisierung durch die Diversität der Logistik: Es gibt kaum Einheitslösungen. Für jeden der höchst unterschiedlichen Bereiche der Logistik müssen spezifische Lösungen gefunden werden: Maßanzug statt Konfektion.

Was und wie kann die Logistik in Sachen Nachhaltigkeit von anderen Branchen lernen?

Wir können von den Pkw-Herstellern lernen. Lkw und Pkw sind in der Antriebstechnik nicht grundverschieden. Den Einsatz innovativer neuer Hochtechnologie können wir von der IT- und der Internet-Branche abgucken. Hersteller und Handel von Konsumgütern sind uns ein Vorbild bei der Kollaboration und Kooperation zur Vermeidung von Müll und Verpackung. Und schließlich liefert die Tourismusbranche glänzende Ideen zur Kombination von Kundenorientierung und Nachhaltigkeit.

Worin ist die Branche Vorreiter und dient als Vorbild für andere Branchen?

Zum Beispiel bei der Nutzung von Künstlicher Intelligenz: Bereits 22 Prozent der Logistikunternehmen setzen sie ein. Bei IoT-Anwendungen und Sensortechnologie sind es sogar 61 Prozent, bei Warehouse Management-Systemen 59 Prozent, bei digitalen Marktplätzen 41 Prozent und schließlich bei Big Data und Analytics 41 Prozent. Auch der Einsatz digitaler Zwillinge setzt sich immer stärker in der Logistik durch sowie der Einsatz von Lieferdrohnen, Robotik, Autonomisierung und intelligenten Warenlagern. So viel Technologieführerschaft würde man der oft als bieder gescholtenen Logistik gar nicht zutrauen …

Wie wird der Logistiksektor Ihrer Meinung nach in den nächsten Jahrzehnten aussehen – global und in Deutschland?

Ignorieren wir für einen Moment die zeitliche Zuordnung, die bei Prognosen einem Blick in den Kaffeesatz gleicht. Wichtiger als der zeitliche Horizont sind die Inhalte der Veränderung wie zum Beispiel die bereits heute absehbaren fünf Entwicklungen der nächsten zehn bis 30 Jahre:

  1. Die Logistik wird neue Technologien aus Bereichen und Branchen übernehmen, die heute noch undenkbar sind: aus FinTech, High Tech und der Internet-Branche zum Beispiel.

  2. Unser Sektor wird nicht mehr „nur“ Prozesse und Strukturen optimieren, sondern komplett neue Business- und Kooperationsmodelle entwickeln und implementieren.

  3. Die Logistik wird den Fachkräftemangel abgeschafft haben dank KI, aber vor allem, weil sie eine Personal- und Führungskräfteentwicklung etablieren wird, die unserem Schulsystem den Rang abläuft.

  4. Logistik macht die Lieferketten langsamer: Slow is the new beautiful, da nachhaltig. Denn die verbreitete 24h-Liefermentalität produziert megalomane Lager, dekadente Überproduktion, Tausende Tonnen Ausschuss und sündhafte Ressourcenverschwendung.

  5. Das Supply Chain Management der Zukunft macht Schluss mit Lieferketten-Diskriminierung der Art: „Das ist doch bloß ein kleiner Spediteur!“ In der Wertschöpfungskette der Zukunft sind alle Partner gleichwertig und gleich respektiert, weil die schlagkräftigste und zugleich effizienteste Organisationsform das offene, hoch kollaborative Ökosystem ist.

Bildergalerie

  • Der Deutsche Nachhaltigkeitspreis für Unternehmen der Mobilität und Logistik wird unter anderem in den Kategorien „Automobilindustrie“, „Luftfahrzeug-, Bahn- und Schiffsbau“, „Mobilitätsdienstleistungen“, „Transport- und Logistikwirtschaft“ und „Verkehrsinfrastruktur“ vergeben.

    Der Deutsche Nachhaltigkeitspreis für Unternehmen der Mobilität und Logistik wird unter anderem in den Kategorien „Automobilindustrie“, „Luftfahrzeug-, Bahn- und Schiffsbau“, „Mobilitätsdienstleistungen“, „Transport- und Logistikwirtschaft“ und „Verkehrsinfrastruktur“ vergeben.

    Bild: Frank Fendler

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