Mit dem Shift-Left-Prinzip rücken Produktion und Logistik noch näher zusammen. Das digitale Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft.

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Die Supply Chain direkt mitdenken

13.05.2024

Komplexe Lieferketten für globale Produktionsnetzwerke erfordern eine Verknüpfung von Produktgestaltung und Logistik. Dies bietet Chancen für den Klimaschutz.

Jedes Produktdesign ist bei näherer Betrachtung ein Entwurf für die Logistik. Es besteht aus Komponenten, die nach einem bestimmten Lebenszyklus ausgetauscht werden müssen. Es bildet Bauteile ab, für die nur bestimmte Lieferanten infrage kommen. Es zeigt auf, wie weit die Wege vom Zulieferbetrieb bis an die Produktionslinie sind.

Kommen die Halbleiterchips aus Fernost oder aus Süddeutschland? Wann müssen welche Komponenten ersetzt werden? Welche Verkehrswege kommen infrage? Und wie sieht die aktuelle Versorgungssituation für diese Teile auf dem Weltmarkt aus?

Design-to-source-Intelligence macht diesen Bauplan transparent. So können Logistiker weit im Vorfeld der Produktion oder eines Ersatzteilaustauschs mit Kapazitäten planen, ihr Transportnetzwerk konfigurieren und den Einfluss der Teilebeschaffung auf das Klima bewerten.

Am Anfang der Produktionskette

Beginnt die Supply Chain im Regelfall mit dem Abruf des lieferfertigen Produkts, rückt sie in diesem Fall ganz nach links, an den Anfang des Herstellungsprozesses. „Shift-Left“ nennt sich diese Seitwärtsbewegung, die unmittelbar an das Engineering anknüpft.

Der entscheidende Vorteil dieses Konzepts: Statt auf unvorhergesehene oder unplanbare Ereignisse reagieren zu müssen, kann sich der Logistiker an festen Größen orientieren, die sich beispielsweise aus der Lebensdauer eines elektronischen Bauteils ergeben oder daraus, dass für einzelne Komponenten nur bestimmte Lieferanten infrage kommen.

Diese Perspektive ermöglicht dem Logistiker, sein Supply-Chain-Design an das Produktdesign anzupassen und vorausschauend zu planen – auch im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Transportkette. So lassen sich auf Basis belastbarer, produktbezogener Daten und Informationen beispielsweise Szenarien entwickeln, die in resilienten und klimafreundlichen Versorgungskonzepten münden, Grundlage für neue Preismodelle sind oder die Konzeption von Netzwerkstrukturen ermöglichen, mit denen sich Lieferfähigkeit auch in Krisenzeiten sicherstellen lässt.

Detaillierte Informationen über elektronische Bauteile finden sich beispielsweise auf der Design-to-Source-Intelligence-Plattform Supplyframe. Sie gehört seit 2021 zu Siemens und ist eine der größten Plattformen für globale Wertschöpfungsketten von elektronischen Komponenten. 600 Millionen Teilenummern von Herstellern sind hier zu finden.

Von weitreichenden Produkt-Echtzeitinformationen wie diesen profitiert die Umwelt in besonderem Maße: Sind die benötigten Komponenten verfügbar? Welchen Weg sollen sie nehmen? Und welche Kosten sind damit verbunden? Zu den Parametern, die dabei Berücksichtigung finden, zählen nicht nur die Laufzeit und der angestrebte Liefertermin, sondern auch die Höhe der CO₂-(Kosten-)Belastung.

Indem bereits in der Designphase die Auswahl der Materialien, die Optimierung der Transportwege und die Reduzierung von Abfällen berücksichtigt werden, können Unternehmen erhebliche Fortschritte bei der Reduzierung ihres ökologischen Fußabdrucks erzielen. Durch die Integration von Umweltkennzahlen in ihre Entscheidungsprozesse können sie außerdem fundierte Entscheidungen treffen, die sowohl ökologisch als auch ökonomisch sinnvoll sind.

Klimaeffekte einschätzen

Digitale Tools wie das Rate Card Management automatisieren den damit verbundenen administrativen Aufwand. Denn sie ermöglichen im Idealfall nicht nur die automatisierte Preisfindung auf Basis vorliegender Verträge und Angebote. Sie beziehen zugleich CO₂-Kosten – zum Beispiel auf Basis von Emissionsberechnungen nach dem internationalen GLEC-Standard – in den Vergabeprozess ein. Pflege, Archivierung, Auswertung, Dokumentation, Vergleich: Alle Daten, die im Zuge der Dienstleisterbeauftragung von Bedeutung sind, können für die Kalkulation auf Knopfdruck herangezogen werden.

Auch mit Simulationstools wie dem Digitalen Zwilling oder Softwarelösungen wie der Supply Chain Suite, die Daten aus unterschiedlichen Quellen zur vorausschauenden Planung von Lieferketten heranziehen, lassen sich die Klimaeffekte des Shift-Left für die Logistik genau einschätzen. Insbesondere in der Kreislaufwirtschaft, die sich am Lebenszyklus und den recycelbaren Komponenten eines Produkts orientiert, können Prozesse so von Anfang bis Ende – und wieder zum Anfang hin – nachhaltig geplant und ausgerichtet werden.

Jede Komponente wird Informationsquelle

Die Ergebnisse, die solche Planungstools liefern, bilden nicht nur die günstigste oder schnellste Route ab, sondern auch diejenige, die aufgrund der geringsten CO₂-Emissionen am nachhaltigsten ist. Für jede verfügbare Option werden alle Details zum Sendungsverlauf angezeigt, einschließlich aller Etappen und der Kostenaufteilung sowie der Informationen über Zuschläge.

Mit dem Shift-Left-Prinzip rücken Produktion und Logistik dementsprechend noch näher zusammen. Zur wichtigen Planungsgröße für die Sicherstellung der Lieferfähigkeit und der Nachhaltigkeit von Logistikprozessen wird das Produktdesign selbst.

Dabei wird jede Komponente zur Informationsquelle, die sich zur Optimierung von Transport- und Lagerprozessen heranziehen und im Hinblick auf alternative Versorgungsstrukturen bewerten lässt. Indem Unternehmen bereits in der Designphase ihre Lieferketten optimieren und Umweltaspekte berücksichtigen, können sie nicht nur ihre ökologischen Fußabdrücke reduzieren, sondern auch ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern und langfristigen Erfolg sichern.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Design-to-source-Intelligence kein statisches Konzept ist, sondern sich kontinuierlich weiterentwickelt. Zukünftige Entwicklungen in den Bereichen Datenanalyse, Künstliche Intelligenz und digitale Zwillinge werden es Unternehmen ermöglichen, noch präzisere Prognosen zu erstellen und noch nachhaltigere Entscheidungen zu treffen. (ab)

Christian Wendt ist Head of Marketing & Communication bei Siemens Digital Logistics

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